Die Bedeutung des Aramäischen für die Weltkultur und das Anliegen der virtuellen Ausstellung
Das Aramäische hat eine herausragende geschichtliche und kulturelle Bedeutung als eine der ältesten heute noch gesprochenen Kultursprachen der Welt. Es gibt eine sich über mehr als drei Jahrtausende erstreckende Geschichte der Aramäisch sprechenden Völker im Mittleren Osten, die kulturell stets eine bedeutende Rolle gespielt haben. Sie fungierten als Bindeglied zwischen den Mesopotamiern des Altertums und dem Entstehen der arabischen und islamischen Zivilisationen. Die aramäische Sprache überlebte und dominierte Weltreiche im Altertum. Obwohl es seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. keine staatlich organisierte Form der aramäischen Völkerschaften mehr gibt, hat die Sprache als Kulturträger und Identität stiftendes Medium für Aramäer überlebt und sich in verschiedenen Formen und Dialekten bis heute erhalten.
Wesentlichste Ursache dafür ist, dass sich Aramäisch bei geschichtlichen Zäsuren in seinem Verbreitungsgebiet als effektives schriftliches und mündliches Kommunikationsinstrument erwies, das zum Träger des Neuen wurde: So bei der “Übernahme” Assyriens durch die Aramäische Sprache nach dem Sieg der Assyrer über die Aramäer, so bei der Entwicklung zur Volkssprache im Vorderen und Mittleren Osten, wo es als dominierende Sprache an der Wiege des Christentums stand und Sprache seiner Verkündigung wurde. Als sich im 8. und 9. Jh. n. Chr. das Arabische als dominierende Sprache im Vorderen und Mittleren Orient durchzusetzen begann, war Aramäisch als Sprache der syrisch- orthodoxen Liturgie so verankert, dass es, verbunden mit den verschiedensten aramäischen Dialekten, die in den Hauptsiedlungsgebieten der Aramäer in der Osttürkei, in Syrien, im Irak und in Persien weiterhin gesprochen wurden, als Kulturträger der Aramäischen Völkerschaften bis heute überlebte.
Der bedeutende Erforscher der arabischen Literatur, Franz Rosenthal, der seine wissenschaftliche Laufbahn mit dem Studium des Aramäischen begann, hat die Bedeutung des Aramäischen für die Menschheitsgeschichte so beschrieben:
„Meiner Ansicht nach repräsentiert die aramäische Geschichte den reinsten Triumph des menschlichen Geistes, wenn er sich in Sprache manifestiert (die die direkteste Form der physischen Ausdruckskraft des menschlichen Geistes ausmacht), über das rohe zur Schau stellen physischer Kraft... Große Weltreiche wurden von der aramäischen Sprache erobert, und als sie untergingen und im Fluss der Geschichte versanken, blieb doch jene Sprache, verselbständigte sich und führte fortan ein Eigenleben.
Natürlich gab es zu jeder Zeit viele Aramäisch sprechende Menschen im Kernland [des Nahen Ostens], doch blieben sie, was sie einst waren - ohnmächtige Enklaven in einer Welt, in der andere um Macht und Dominanz kämpften. Und doch: die Sprache blieb als kraftvoller Ausdruck der Verkündung geistlicher Angelegenheiten. Sie war das Hauptinstrument zur Formulierung neuer religiöser Konzepte im Nahen Osten, die sich anschließend in alle Richtungen und über die ganze Welt ausbreiteten. Einige von ihnen, wie die gnostischen Systeme, dominierten die Welt über Jahrhunderte hinweg, bevor sie ihre Eigenständigkeit verloren. Andere, die monotheistischen Konzeptionen, leben auch heute noch mit ihrem religiösen Erbe, das oftmals seinen ersten Ausdruck im Aramäischen fand…
Die gesamte aramäische Geschichte bietet daher ein großartiges und einzigartiges Bild. Sie lehrt uns, dass ein "Außenseiter" tatsächlich die Kraft besitzen kann, eine entscheidende Rolle zu spielen, dass es dem gemeinen "Wort" möglich sein kann, ganze Reiche zu dominieren und deren Zerfall zu überleben, ja, dass es für die wahren Errungenschaften des menschlichen Geistes auch dann noch möglich ist weiterzuleben, wenn ihre Erschaffer nicht mehr die Herren über ihr eigenes Geschick und ihre Umgebung sind. Hierin scheint eine ermutigende Lektion für unsere eigene Zeit zu liegen. Es ist eine Lektion, die für jeden, der das Glück hatte, mit der aramäischen Geschichte in Berührung zu kommen, gleichermaßen ersichtlich und unausweichlich ist.“
(Entnommen aus: Die verborgene Perle Bd. 1 – Das antike aramäische Vermächtnis, Sebastian P. Brock, 2001)
Diese einzigartige Sprache ist jedoch bedroht, da ihre Träger heute ganz überwiegend in der Diaspora und damit in einem anderssprachigen Umfeld leben. Es sind große Anstrengungen erforderlich, die Sprache zu erhalten und weiter zu tragen. Mit dieser Ausstellung soll auf ihre unbedingte Erhaltenswürdigkeit hingewiesen werden.